Normalobjektive sind spannender, als der Name vermuten lässt. Ihren Namen haben Sie aus Zeiten, in denen das Standardobjektiv zu Spiegelreflexkamera klassischerweise ein Objektiv mit etwa 50 Millimetern Brennweite und einer Lichtstärke von 1,8 war. Der Hauptgrund für diese Lösung war zumindest damals, dass die Brennweite an einer Kleinbildkamera beim Fotografieren am ehesten dem menschlichen Blickwinkel entspricht. Und dass die hohe Lichtstärke auch Aufnahmen unter schlechten Lichtbedingungen erlaubte. Genau das und dazu noch ein schöner Unschärfeffekt oder Bokeh sind auch die Hauptgründe, warum Du Dich (zumindest zeitweise) auch heutzutage mal mit einem Normalobjektiv beschäftigen solltest. Hier findest Du auch das ausführlichere Video zum Thema Fotografieren mit dem Normalobjektiv, das es natürlich auch auf meinem Youtube-Kanal gibt.
Das klassische 50mm mit Blende 1,8 gibt es aber heute kaum noch. Für moderne Kameras gibt es dagegen eine Vielzahl von eher weitwinkligen Festbrennweiten, die je nach Sensorgröße und dem Faktor für die Brennweitenverlängerung auf Kleinbild-Werte zwischen 30 und 60 Millimetern kommen.
Lediglich für die teureren Vollformatkameras (zum Beispiel Canon 5D, R und RP, Nikon Z7 und Z6, Panasonic S1 oder Sony A7 III) ist ein 50-Millimeter-Objektiv heute auch eine 50-Millimeter Brennweite. Beim kleineren APS-C Format Sensor (zum Beispiel Sony Alpha 6000 bis 6400, Canon D90, EOS M etc.) wird die Brennweite um den Faktor 1,6 verlängert. (Siehe auch meinen Artikel über Auflösung und Sensorgröße). Mein Canon EF-M 22 mm Pancake-Objektiv an der Canon EOS M6 entspricht also einem leicht weitwinkligen 35 Millimeter Objektiv.
Normalobjektive: Was ist schon normal?
Bei den noch kleineren Sensoren der Micro Four Thirds Kameras (MFT) muss man sogar den Faktor x2 anwenden, um die tatsächliche Brennweite zu erhalten. An meiner Lumix G81 ist also das kleine und leichte Lumix 25-mm-Objektiv mit Blende 1,7 das Äquivalent zur 50-mm-Lösung. Und hier wird es auch schon knifflig, denn lichtstarke Objektive mit noch geringeren Brennweiten sind hier (noch) selten und teuer.
Der Vorteil meiner Lösung an der Canon EOS M6 ist, dass die Kombination sehr kompakt ist und wirklich überall dabei sein kann. Aber ist diese Lösung deswegen auch wirklich universell und überall sinnvoll einsetzbar?
Normalobjektiv für die Landschaftsfotografie
Der Bereich Landschaftsfotografie ist wohl am wenigsten speziell. Und auch die Tatsache, dass meine ‘realen’ 35 Millimeter Brennweite eher weitwinklig sind, kommt diesem Einsatzzweck am ehesten entgegen. Die hohe Lichtstärke erlaubt auch Aufnahmen unter schlechten Lichtbedingungen – und / oder auch Aufnahmen aus der Hand, wenn man sonst schon zum Stativ greifen müsste. Bei normalem Licht kann man immer noch zwei Blendenwerte zugeben und erhält damit noch schärfere Bilder. Durch die Abblendung erreicht man auch einen scharfen Vordergrund
Die Bildqualität dieses Normalobjektivs ist gut. Der kleine Objektivdurchmesser macht die Anschaffung preiswerter ND-Filter möglich, für die man zum Beispiel bei 77 mm schon viel mehr Geld hinlegen muss. Außerdem erlauben diese Graufilter, die offene Blende noch öfter zu nutzen. Zum Beispiel immer dann, wenn man den Unschärfebereich und das schöne Bokeh der hohen Lichtstärke nutzen möchte.
Landschaft und Freistellung
Dann werden Objekte im Vordergrund förmlich herausgestellt. Auch in der Landschaftsfotografie gibt es dafür gute Einsatzbereiche, bei anderen Motiven kann das noch viel vorteilhafter sein.
Ein Nebeneffekt dieser lichtstarken Festbrennweiten als Normalobjektive erweist sich bei genauerem Hinsehen eher als Vorteil denn als Nachteil. Die universelle Linsae, heute auch meist schon Kit-Objektiv beim Kauf der Kamera dabei ist, ist ein Zoom-Objektiv. Diese Zooms decken den gebräuchlichsten Brennweitenbereich ab (etwa 35 bis 70 mm) und sind nicht besonders lichtstark. Aber sie sind ideal für schnelles, einfaches und ‘faules’ Fotografieren.
Um den richtigen Bildausschnitt festzulegen genügt nämlich eine Drehung am Zoomring. Da ist es meist auch nur naheliegend, dass man an der einmal gewählten Perspektive nichts mehr ändert. Mit der Festbrennweite legt man den Bildausschnitt ‘zu Fuß’ fest – indem man sich selbst bewegt, an den richtigen Ort. Und dabei korrigiert man gerne und einfach neben dem Bildausschnitt auch die Perspektive, rückt also Dinge in den Vordergrund oder heraus und sucht nach verschiedenen Höhen. Diese Art des Fotografierens geschieht bewusster und – ich behaupte das einfach mal aus meiner Erfahrung heraus – auch sorgfältiger.
Da mein Instagram Account @joachimott sich vorwiegend dem Thema Landschaftsfotografie widmet und ich öfters mal auch spontan mit kleinem Gepäck unterwegs bin, ist diese Kombination aus einer kompakten Kamera und einem lichtstarken Normalobjektiv für mich eine gute Lösung.
Produktfotos
Wann immer man zum Beispiel Produkte ablichtet, ist dieser Freistellungseffekt sehr nützlich. Sei es für einen Shop, um eigene Produkte zu präsentieren oder auch im Bereich der Food-Fotografie. Der Blick wird durch den Unschärfebereich viel direkter auf das gelenkt, was man in den Fokus genommen hat.
Und auch hier sorgt die hohe Lichtstärke dafür, dass man aufs Stativ auch weitgehend verzichten kann. Für meine Website testschmecker.de lichte ich viele Gerichte vorzugsweise mit solchen Brennweiten mit hoher Lichtstärke ab. Auch wenn man geneigt ist, zur Verstärkung dieses Effekts zu längeren Brennweiten zu greifen, ist das Normalobjektiv einfach universeller einsetzbar. Wer also weniger oft das Objektiv wechseln möchte, ist damit gut bedient. Ein paar mehr Tipps zum Thema Produktfotografie gibt es hier und hier (jeweils mit Videos).
Die Kombination aus der Canon EOS M und dem 22-mm-Normalobjektiv setze ich deswegen recht gerne für Foodfotos ein, die auf meinem Food-Account bei Instagram @testschmecker erscheinen.
Porträtfotos
Was für Produktfotos gilt, das gilt auch und erst recht bei Porträtfotos. Schönes Bokeh, hohe Lichtstärke und ein ‘normaler’ Blickwinkel – das sind gute Voraussetzungen für Porträts, bei denen der Mensch im Vordergrund steht. Angesichts des leichten Weitwinkeleffekts könnten allerdings leichte Bedenken aufkommen. Bekanntlich bewirken Teleobjektive ja einen Kissenförmigen Effekt, Weitwinkel-Linsen dagegen einen tonnenförmige Verzeichnung.
Bestenfalls wird also ein Gesicht in der Mitte eines Porträtfotos mit einem Teleobjektiv schmaler, bei einem Weitwinkelobjektiv dagegen aufgebläht. Der schlechtere Fall ist, wenn das Gesicht am Rande des Bildes platziert ist. Dann wirken Verzeichnungen wirklich skuril. Beim Canon EF-M 22mm dagegen hält sich der Effekt sehr in Grenzen. Man muss bei Porträts schon sehr nah an den Porträtierten heran gehen und seltsame Perspektiven wählen, ansonsten erhält man mit dem Objektiv wirklich gute Aufnahmen.
Mein Fazit
Die beschriebenen Themenbereiche Landschaft, Produkte, Porträts sind in meinen Augen diejenigen, in den das Normalobjektiv (jedes Normalobjektiv) recht viel Spass machen und gute Ergebnisse erzielt. Der Verzicht auf die bequeme Zoomfunktion lädt förmlich ein zu einer bewussteren Bildgestaltung. Und die Ergebnisse zeigen, dass weniger tatsächlich manchmal auch mehr sein kann. Einer der Hauptvorteile des Einsatz solcher Normalobjektive ist neben der kompakten Ausrüstung sich die gute Schule bei der Wahl von Ausschnitt und Perspektive.
Nichtsdestotrotz gibt es viele Bereiche, in das Normalobjektiv anderen Linsen unterlegen ist. Wer die Milchstraße fotografieren will, der sucht eine lichtstarke Linse mit mehr Weitwinkel. Für Sportfotografie sind lichtstarke Teleobjektive oder Telezooms natürlich unersetzlich. Und wer das Familienfest fotografieren will oder einen Wochenendtrip, der wird sicher zum bequemeren und schneller einsetzbaren Standard-Zoom greifen.
Ich freue mich über Rückmeldungen, auch zum oben eingebunden Video „Fotografieren mit dem Normalobjektiv”, das Du mit etlichen anderen auch auf meinem Youtube-Kanal findest.